Soldatenfriedhof Voerde 1945 – 1970
Von Wolfgang Petri , Heimatkalender Kreis Dinslaken, 1970
Bei einem der ersten Wege nach meiner Heimkehr aus dem letzten Kriege am 9. 6. 1945 stieß ich an der Neustraße in Voerde auf ein großes im Unkraut versinkendes Gräberfeld. Als ich es näher ansehen wollte, warnte mich ein Anwohner, das Betreten sei für Deutsche verboten. Nun, es war nicht so ernst damit. Ich entdeckte den Platz, auf den heute verschiedene Schilder am Eingang von Voerde als eine der großen Kriegsgräberstätten am Niederrhein hinweisen. Hier sammeln sich Jahr um Jahr am Volkstrauertag viele hundert Menschen, um der hier ruhenden Gefallenen und der eigenen, die, in fremden Ländern begraben, oft ganz unerreichbar sind, zu gedenken. Wie ist es hierzu gekommen? Seit Anfang März 1945 lagen amerikanische Truppen der 9. Armee am linken Rheinufer im Bereich der Gemeinde Voerde den schwachen deutschen Einheiten der 1. Fallschirmjägerarmee gegenüber. In der Nacht vom 23. zum 24. März wagten sie nach gründlicher Vorbereitung mit gewaltiger Überlegenheit den Obergang über den Strom. Ihre Stoßrichtung ging entlang der Lippe auf die Weser nach Braunschweig und Magdeburg, während die nördlich der Lippe angreifenden englisch-kanadischen Truppen auf Bremen und Harnburg zustießen. Gleichteilig wurde das vorsichtig umgangene Industriegebiet an Ruhr und Emscher von Amerikanern eingekreist, die von Remagen her von Süden auf Hamm stießen und sich dort mit denen vom Niederrhein trafen und die Heeresgruppe B in den Tagen vom 16. bis 18. April zur vorzeitigen Kapitulation zwangen.
Anfang April, als die Amerikaner schon bei Hameln die Weser erreicht hatten, kamen Angehörige des amerikanischen Kriegsgräberdienstes mit Lastwagen nach Voerde und begannen auf einem vorher dazu ausgesuchten Acker des alten Voshalshofes an der Neustraße nahe dem Bahnhof Voerde deutsche Soldaten beizusetzen. In wenigen Tagen füllten sie, meist farbige Amerikaner, 2 große Felder mit je 12 Reihen zu je 25 Grabstätten mit deutschen toten Soldaten. Noch ein 3. Feld wurde angefangen, aber mit dem 18. Grab der ersten Reihe hörten sie auf. Jedes Einzelgrab wurde mit einem schlichten weißgestrichenen Holzkreuz versehen, auf dessen Rückseite ein Weißblechschild die Erkennungsmarkenbeschriftung der Toten, in einzelnen Fällen auch ihren Namen zeigte. Die Amerikaner, die sehr sorgfältig vorgingen, konnten ja den Inhalt der Soldbücher mit den Personalien der Soldaten wegen der deutschen Schrift selten lesen, und halfen sich – glücklicherweise – deshalb auf diese Art. Die mit Namen versehenen Täfelchen stellten sich nachher oft als unzuverlässig heraus und hätten gar keinen Anhalt über die Heimat der Toten gebracht. Vermutlich haben die Amerikaner den Friedhof unvollendet hinterlassen, weil die Front immer weiter fortrückte oder weil inzwischen Engländer die Besatzungstruppe für den Niederrhein stellten.
Das erwähnte Verbot hielt die Bevölkerung zunächst davon ab, nach den Gräbern zu sehen; als aber mit dem Frühjahr Unkraut die Kreuze überwucherte und sich zeigte, daß die Engländer es nicht hinderten, begannen die Anwohner, die Grabfelder vom Unkraut zu säubern, und bald fanden sich Helfer, um die Erkennungsmarken und andere Täfelchen zu registrieren und Listen anzulegen. Unter Mitwirkung des Amtes Voerde und der Kirchengemeinde Götterswickerhamm wurde nun zunächst nach dem Schlüssel gesucht, die Zahlen und Buchstaben in Namen der Menschen zu verwandeln, die einmal diese Kennzeichen getragen hatten. Unauflöslich blieben die fast 100 Kreuze, auf denen nur „Unknown“ (unbekannt) stand. Die Namen halfen auch meist nicht weiter, weil sie falsch gelesen waren.
So war es eine große Erleichterung, als im Frühjahr 1946 endlich ein Offizier des amerikanischen Kriegsgräberdienstes aus Versailles eine vollständige Liste der Voerder Gräber 1 – 618 brachte, die sich mit der von den Kreuzen abgeschriebenen eigenen deckte. Durch ihn wurde auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf den Voerder Friedhof aufmerksam. Wenige Tage später standen Vertreter des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen (damals noch Westfalen- Ruhrgebiet) des Volksbundes auf diesem Totenacker, um Fühlung mit denen aufzunehmen, die sich seit Monaten schon um die Aufklärung der Gefallenenschicksale und die Pflege des Friedhofes gekümmert hatten. Der damalige Geschäftsführer des Landesverbandes erzählte später von diesem ersten Besuch: „An einem Novembertag 1946 bin ich mit einigen Mitarbeitern des Landesverbandes zum ersten Male hierhergekommen. In den Ackerschollen standen 621 Kreuze, von denen nur 106 einen Namen trugen. 430 verzeichneten die Erkennungsmarke und auf 85 fehlten alle Angaben. Uns erschienen sie alle namenlos, denn wie sollte es gelingen, die Familien eines Alfred Krause, eines Erich Lange, eines Gerhard Meier ohne jede nähere Angabe zu finden? Noch weniger besagten die Erkennungsmarken, mysteriöse Abkürzungen und Ziffern, zu deren EntschlüsseJung die Stammlisten erforderlich waren; und wir wußten damals nicht, ob sie in dem chaotischen Untergang gerettet wurden.“ Sie waren gerettet worden, wie sich glücklicherweise bald ergab, wenn auch vorerst nur ein Teil der Listen zugänglich war. Es war durch Vermittlung der Franzosen gelungen, die zunächst im russischen Sektor von Berlin liegenden Unterlagen der Wehrmacht in ihren Sektor zu holen und so der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung von Gefallenen der ehem. deutschen Wehrmacht (WASt. in Berlin-Frohnau) zur Auswertung zu überlassen. Die seinerzeit unter französischer Verwaltung arbeitende Dienststelle hat unter schwierigen Bedingungen bereitwillig geholfen, die Erkennungsmarkenlisten in Namen und Daten umzusetzen.
Nach neun Monaten lagen die ersten Ergebnisse vor: 290 Namen von Gefallenen und vor allem-die Anschrift der Angehörigen, die nun benachrichtigt und denen – wenn auch schmerzliche – Gewißheit über die letzte Ruhestätte gegeben werden konnte. Die amtliche Benachrichtigung lag – im Zusammenhang mit der notwendigen Beurkundung – zunächst in den Händen der Deutschen Dienststelle. Die Anschriften der Angehörigen aber waren durch Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung vielfach überholt. Deshalb begann der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Mai 1947 damit, seinerseits Kontakt mit den Angehörigen aufzunehmen und ihnen eine erste kurze Information über das Grab und den Friedhof zu geben. Nebenher liefen seine Ermittlungen nach den Personalien derjenigen Gefallenen, von denen nur Vor- und Zuname bekannt waren, und auch für eine Anzahl von in Voerde bestatteten Volkssturmmännern und Polizeibeamten, für welche es Unterlagen bei der Deutschen Dienststelle in Berlin nicht gab. Umfangreicher Schriftwechsel mit Standesämtern, Einwohnermeldeämtern und Polizeidienststellen hatte auch hier Erfolg. Auch Gemeinde und Kirchengemeinde nutzten alle erdenklichen Anhaltspunkte, um im Kontakt mit Dienststellen und Angehörigen das Schicksal der Namenlosen zu klären. Erschwert waren die Ermittlungen durch einen Mangel amerikanischer Schreibmaschinen. Weil diese kein „ö“ oder „oe“ kennen, war als Grabort immer „Vorde, Deutschland“ angegeben, das es bekanntlich nicht gibt. Viele zweifelten auch, als sie Voerde hörten, daß das stimmen könnte, weil ihre Angehörigen weit vom Niederrhein ihr Leben gelassen hatten.
Von wo kamen die Gefallenen in Voerde? Merkwürdigerweise nicht aus der Nähe, sondern von weither, aus dem nördlichen und östlichen Westfalen und Lippe. Der entfernteste war bei Rinteln an der Weser gefallen, andere im Detmolder Raum, andere im Münsterland oder ostwärts von Hamm. Merkwürdig war eine Entdeckung, daß aus einem Lazarett in Münster die am Montag Verstorbenen nach Voerde, die am Dienstag nach Senne I bei Brackwede auf einen amerikanischen Soldatenfriedhof gebracht wurden. Neben Gefallenen kamen auch Verstorbene aus dem riesigen Gefangenenlager Rheinberg nach Voerde.
Aus der Zusammenarbeit aller an dem Friedhof interessierten Kreise entstand der Wunsch – die Anregung gab der damalige Bürgermeister Dr. Overkamp in Voerde – alljährlich eine kirchliche Gedenkfeier auf dem Friedhof zu halten, zu der neben den Angehörigen die Menschen am Ort eingeladen wurden. Die Evanglische Kirchengemeinde Götterswickerhamm, die Katholische in Eppinghoven und die dann entstehende St-Paulus-Gemeinde in Voerde nahmen die Anregung gern auf. Die Pastoren beider Konfessionen wechselten jedes Jahr mit Gebet und Schriftlesung sowie mit der Ansprache ab. Die Angehörigen wurden von ihnen, nachher vom Amt Voerde persönlich eingeladen. Der evangelische Posaunenchor Voerde und die Männergesangvereine am Ort wirkten bei den Feiern von Anfang an mit. Vertreter der Behörden, später auch die wiederzugelassenen Vereine mit ihren Fahnenabordnungen und zuletzt auch Abordnungen der Bundeswehr kamen gern, um mit den Angehörigen und solchen, die anderswo Gräber in fernen Ländern hatten, sich zur Besinnung zu sammeln.
Im Jahre 1946 hatte der Volksbund schon die Anlage des Friedhofes nach den Plänen des von ihm beauftragten Gartenarchitekten Tapp, Düsseldorf, festgelegt. Zwei große Gräberfelder sollten bleiben; 21 Gräber mußten umgebettet werden. Hinzu kamen die Soldaten aus 132 Feldgräbern aus dem Amt Voerde und 71 aus dem Amt Gahlen. Beide wurden durch einen breiten Mittelweg getrennt. So fanden auch die meisten vor und beim Rheinübergang in unserem Raum gefallenen deutschen Soldaten hier ihre Ruhestätte. Bisher lagen ihre Gräber meist dort, wo sie gefallen waren, am Wegrand, auf Hofstätten, in Gärten; die Anwohner hatten sie gepflegt, z. T. die Nachlaßsachen verwahrt und konnten den Angehörigen sogar noch Auskunft über das Sterben ihrer Lieben geben. 46 Soldaten waren auf dem Schulhof in Friedrichsfeld – heute im Babcockwerk – wo die Wehrmacht einen Hauptverbandsplatz hatte, beigesetzt gewesen.
Nach dieser ersten Ausgestaltung wurde am Totensonntag, 24. 11. 1946, der Friedhof kirchlich eingeweiht. 1948 bekam der Mittelweg als Blickpunkt ein hohes Holzkreuz, die ganze Anlage einen Rahmen. Endlich wurden anstelle der rasch verwitternden provisorischen Kreuze der Amerikaner massive Eichenkreuze gesetzt, in die die Namen eingeschnitzt waren. Am Totensonntag, 16. 11. 1950, wurde die Anlage in einer großen Feier vom Landesverband Ruhrgebiet des Volksbundes in die Obhut der Gemeinde Voerde übergeben.
Ein besonderes Problem bildeten die Gräber, die von der Truppe während der Kämpfe auf den kirchlichen und Kommunalfriedhöfen angelegt waren. Sie wurden dort von einzelnen Familien gepflegt, die bald auch Kontakt mit den Angehörigen bekamen, die diesen Zustand gern beibehalten hätten. Aber das Gesetz, das die Erhaltung der Kriegsgräber auf unbegrenzte Zeit dem Bund zur Pflicht gemacht hatte, forderte die Sammlung aller Kriegstoten auf gemeinsamen Friedhöfen. Nun ordnete der Regierungspräsident die Umbettung auch dieser Soldaten auf den gemeinsamen Friedhof an. Sie wurde sorgfältig durch Fachleute des Volksbundes im April 1956 vorgenommen. Alle Umbettungen gaben Gelegenheit, die Identität der Beigesetzten, vor allem einiger Unbekannter zu überprüfen. Diese letzte größere Zubettung fand ihren Platz in dem Grünstreifen, der den ganzen Friedhof säumt. Einige wenige Voerder Männer, die anderswo gefallen oder gestorben waren, wurden auch noch auf den Soldatenfriedhof überführt.
Nach einer amtlichen Karte des Volksbundes „Kriegsgräberstätten in der Bundesrepublik Deutschland“ umfaßt der Voerder Friedhof heute 889 Einzelgräber von Soldaten, Polizeibeamten, Volkssturmmännern und Luftwaffenhelfern. Auf den kirchlichen Friedhöfen blieben nur Gefallene, die dort beheimatet waren. Die seit Kriegsende nicht aufgegebenen Bemühungen, die noch verbliebenen Unbekannten zu identifizieren, wurden noch einmal verstärkt, als im Jahre 1960 mit Rücksicht auf das dauernde Ruherecht der Gefallenen vom Volksbund der Vorschlag gemacht wurde, die Eichenholzkreuze durch Steinkreuze zu ersetzen. Die bei den Graböffnungen im Winter 1961/62 getroffenen Feststellungen führten dazu, daß noch weitere 77 Unbekannte identifiziert und ihre Namen auf den Kreuzen verzeichnet werden konnten. 1963 wurden die neuen Ruhrsandsteinkreuze aufgestellt, sie nennen jeweils die Namen von zwei nebeneinander liegenden Toten.
Geblieben ist die alljährliche Feier am Volkstrauertag, die nach dem Willen der damaligen Gemeindevertretung kirchlichen Charakter behalten hat und in eine anschließende Betstunde ausklingt. Bei den Feiern ist die Zahl der Angehörigen, die z. T. weite Reisen machen müssen, zurückgegangen. Wieviele von ihnen sind alt geworden oder selbst in die Ewigkeit abberufen? Die Besinnung am Volkstrauertag richtet sich daher heute ebenso sehr auf die vielen anderen Opfer, die der Krieg und die Zeit nach 1933 vom deutschen Volk und anderen Nationen im Frieden und im Krieg gefordert hat. Das Rühmen des „Heldengedenktages“ ist vergangen. Auch die, die jene Jahre ungeheurer Blutopfer nicht mehr selbst erlebt haben, brauchen die Erinnerung, die auf dem Dorfehrenmal an der alten Kirche in Götterswickerkamm geschrieben steht, ein Wort Jesu aus dem Markusevangelium (9,50) „Habt Frieden untereinander!“
Die Erinnerung an die 25 Jahre, in denen die Gemeinde Voerde und der Kreis Dinslaken diese Totenstätte in ihrer Mitte hat, ist angefüllt zuerst mit dem spontanen Liebesdienst im Anfang, sich der Gräber anzunehmen, ehe amtliche Stellen es konnten und taten; sodann von dem Erlebnis der Begegnung mit den Hinterbliebenen der toten Soldaten. Mit großer Treue hat die Familie Blecking gegenüber dem Friedhofstor die Gräberliste verwahrt und Auskunft erteilt. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge plant nunmehr die Anfertigung eines Belegungsbuches, welches in einer dauerhaften Kassette auf dem Friedhof untergebracht werden soll. Dankbar sei endlich vermerkt, daß der Volkstrauertag in Voerde durch die Friedhofsfeier ein stiller Tag geblieben ist und die Vereine, auch die Sportjugend auf dem nahen Sportplatz, immer eigene Wünsche zurückstellten, ja sich gern in den Dienst rufen lassen. Dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, welcher nunmehr 50 Jahre in der Stille wirkt, sei abschließend für die Ausgestaltung dieses Soldatenfriedhofes gedankt; auch daß er unablässig Menschen anspricht, die hier Einkehr halten.